Year of production
2020
Client
Laura Rubin / KIWI Publishing
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Die Ästhetik der sinnlichen Erkenntnis
Vorwort für das Buch der Schweizer Künstlerin Laura H. RubinWissen Sie, was Forscher damit meinen, wenn sie von phänotypischer Qualität reden? Nein? Nun, stellen Sie sich einen Wissenschaftler vor, der über Schönheit sprechen soll – über Schönheit auf molekularer Ebene. Dann spricht er über die phänotypische Qualität als die Summe aller Merkmale (Aussehen, Funktionalität und Verhalten), die die Attraktivität eines Organismus bestimmen. Und jetzt fragen Sie sich berechtigter- weise, was das mit dem Buch, dass Sie in Ihren Händen halten, zu tun hat! Attraktivität ist nicht gleich Attraktivität!
Geben Sie mir noch ein paar Zeilen und wir gehen der Sache auf den Grund. Während sich vor allem in der Philosophie Generationen von schlauen Männern und Frauen in unendlichen Debatten über den Sinn und Unsinn von Schönheit und damit einhergehend auch von Attraktivität stritten, ging die traditionelle Ästhetik davon aus, dass universelle und vor allem zeitlose Kriterien für die geschmackliche Bewertung von Schönheit existieren.
Schönheit liegt ja im Auge des Betrachters! Die meisten Zeitgenossen denken beim Thema Schönheit und deren historisch-philosophischer Verankerung in unserer Gesellschaft zuerst an die griechische Antike mit ihrem Kult um perfekte sportliche Körper und schöne Gesichter, um dann direkt mit dem erhobenen Zeigefinger auf die Parallelen des zeitgenössischen Schönheitskults, diktiert von Werbung, Mode und Medien, zu verweisen. Wir alle wollen irgendwie schön sein, anderen gefallen und seitdem es Spiegel gibt, können wir uns selbst beurteilen und sind nicht mehr nur auf das Urteil unseres Gegenüber angewiesen. Aber warum sind Schönheit und Attraktivität so wichtige Faktoren in unserem Leben?
Vielfältige Untersuchungen aus der Verhaltenspsychologie zeigen es: Schöne Menschen sind erfolgreicher, bekommen mehr Geld und werden besser behandelt. Ebenso läßt sich in so gut wie allen Kulturen, Sprachen und Mythen nachweisen, dass das Schöne mit dem Guten immer eng verbunden ist.
Während die ersten Attraktivitätsforscher noch davon ausgingen, dass Schönheit „im Auge des Betrachters“ liege, brachten in den 1980er Jahren durchgeführte Untersuchungen die Erkenntnis, dass sich unterschiedliche Menschen in ihrem Schönheitsurteil durchaus ähneln. Demnach ist unser Attraktivitätsurteil ungefähr zur Hälfte subjektiv, die andere Hälfte haben wir mit anderen Menschen gemeinsam. Damit rückte nun verstärkt die Frage ins Blickfeld, welche Merkmale attraktive Gesichter bzw. Körper auszeichnen. Seitdem spielen in der Attraktivitätsforschung zunehmend evolutionspsychologische Ansätze eine Rolle, die nach dem biologischen „Sinn“ von Schönheit und damit Attraktivität fragen. Phänotypische Qualität – da ist sie wieder – die Wissenschaft entzaubert ein weiteres Mal Ansichten und Glauben, über die seit Jahrhunderten diskutiert wird. Können wir daher Attraktivität und Schönheit somit als Erfolgfaktoren für eine erfolgreiche Weitergabe unserer Gene abtun? So einfach ist das nicht. Auch wenn wir wissen, warum etwas so funktioniert oder nicht, heisst das noch lange nicht, dass wir uns davon lösen können. Das System steckt sprichwörtlich in unseren Köpfen und bestimmt unser aller Denken. Wir sehen Menschen und im Bruchteil einer Sekunde bilden wir uns unser erstes Urteil. Wir entscheiden über Sympathie, über Zuneigung, über Interesse oder darüber ob wir unser Gegenüber einfach ignorieren. Doch wie oft liegen wir im wahrsten Sinne falsch? Wie oft lassen wir uns von scheinbaren Äusserlichkeiten leiten und bilden uns die falsche Meinung.
Als ich vor ein paar Jahren das erste Mal die Werke von Laura sah, war ich fasziniert und verstört zugleich. Auf der einen Seite diese ganz offensichtliche, puristische Schönheit, diese Jugendhaftigkeit, so real und kraftvoll – auf der anderen Seite der verstörende gläserne Blick in die Unendlichkeit, die fast traurig wirkenden Gesichtszüge, die Fragilität und die immer wiederkehrende Gesichtsbemalung in all ihren vielfältigen Formen. Diese Portraits vereinen scheinbar unvereinbare Dinge: Schmerz existiert neben Wolllust und Genuss, visueller Fokus umrahmt mentale Unschärfe, wir erhalten Antworten auf Fragen, die nie gestellt wurden - oder viel zu selten gestellt werden. Die grossen Fragen nach dem, was sich nicht auf den ersten Blick erkennen läßt, die Fragen nach unserem echten Selbst und die Frage, wie sehr wir vielleicht von der phänotypischen Qualität der Wissenschaftler über den Umgang mit unseren Mitmenschen lernen könnten.
Laura arbeitet digital – 100% – und verbindet in einzigartiger Art und Weise Elitäres und Populäres, Wahrscheinliches und Unmögliches, Wirklichkeit und Mythos und passt dennoch kaum in die klassischen Schubladen unseres akademischen Kunstverständnisses. Und das ist gut so. In unserer Gegenwart voller Vielfalt und Möglichkeiten sind alle Stilformen in dialektischer Weise verfügbar geworden und die Vergangenheit konditioniert, belastet, erpresst uns eher, als dass sie wegweisende Richtungen für einen Fortschritt aufweist.
Seien wir ehrlich, das Thema der digitalen Kunst brauchte seine Zeit, um sich von Konzeptverliebtheit und elitären Ausschlussmechanismen zu distanzieren, um seine volle Dynamik und Vielfalt zu ergründen. Losgelöst von Aspekten wie Ästhetik, Formgefühl und vor allem Können experimentierten eine Handvoll Künstler bereits seit ein paar Dekaden mit Computern und entsprechenden digitalen Ausdrucksformen. Doch das, was entstand, besaß oft wenig Strahlkraft und Eigendynamik und konnte bis auf einige Ausnahmen kaum das Interesse der breiten Masse erwecken.
Mit dem Einzug immer leistungsfähigerer Computer und Software und der allgemeinen Digitalisierung des Alltags wuchsen nun auch die Möglichkeiten im Bereich digitaler Ausdrucksformen. Nicht zuletzt die Werbung ermöglichte es vielen Illustratoren und Motiondesignern zu experimentieren und die neuen schier unendlichen Varianten digitaler Ästhetik zu erkunden.
Nach wie vor reicht es natürlich nicht aus, ein paar Tasten auf einem Keyboard zu drücken, um anspruchsvolle digitale Kunst entstehen zu lassen. Mit diesem Buch halten Sie den wunderbaren Beweis dafür in Ihren Händen, daß sich die Anforderungen an digitale Künstler nicht wesentlich von denen analog arbeitender unterscheiden: es braucht immer noch Ideen, Kreativität und vor allem Können.


